Dienstag, 28. November 2006

Tag 366

Tag 366

Genau heute vor einem Jahr hat mein Leben ein zweites Mal begonnen. Am
28. November 2005 habe ich im Uniklinikum Ulm die Stammzellen meines Bruders bekommen. Klingt dramatisch, aber um ehrlich zu sein, fand ich es eher spannend mit einer guten Portion Angst.
Und heute, nach einem Jahr, ist es fast gruselig, die Vorstellung, was da alles passiert ist.

Aber erstmal von vorne:

Diagnose
Ende November 2004 bekam ich die Diagnose Chronisch Lymphatische Leukämie (CLL). Zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich überhaupt nicht krank, entdeckt wurde die Krankheit durch eine Kontrolluntersuchung und einen aufmerksamen Hausarzt, der mich zum Spezialisten (Hämatologen) weiterleitete. Dort wurde das Blut genauer untersucht und mit einer Beckenstanze Knochenmark entnommen.

Mit der Krankheit konnte ich nicht viel anfangen, chronische Leukämie? Nie gehört. Bis dahin wusste ich nicht, dass es eine Unterscheidung in akute und chronische Leukämie gibt und dass man die noch in lymphatisch oder myeloisch unterscheiden muss.

Die Ärztin, die mir die Diagnose sehr einfühlsam mitteilte, erklärte, dass es bei sich bei einer CLL um eine Krankheit handelt, die eigentlich bei älteren eher männlichen Patienten (im Durchschnitt 66 Jahre) auftritt. Der Verlauf der Krankheit könne sehr unterschiedlich sein, auf jeden Fall sei sie aber chronisch und somit nicht heilbar. Solange sich keine körperlichen Beschwerden bemerkbar machen, könne man abwarten und beobachten, außer regelmäßigen Blutbildkontrollen sei nichts zu unternehmen. Sollte die Krankheit einen schnelleren Verlauf annehmen, könne man sie mit Chemotherapien zurückdrängen oder „anhalten“.

Das war der erste Schock, der musste erstmal verarbeitet werden. Irrsinnigerweise hatte ich mir nach der Diagnoseeröffnung gewünscht, dass ich lieber eine akute Leukämie gehabt hätte, ich war der Meinung, dass man dabei relativ schnell wissen würde, ob man wieder genesen würde oder nicht. Inzwischen weiß ich, dass es auch bei akuter Leukämie nicht so einfach und mit einer einzigen (schweren) Behandlung erledigt ist.

Relativ schnell habe ich aber glücklicherweise meinen Optimismus wieder gefunden und bin davon ausgegangen, dass ich viele Jahre von einer Veränderung der Situation verschont bleibe.

Verschlechterung
Es waren leider nur einige Monate, schon im März bekam ich eine heftige Harnwegsinfektion, bei der sich die Blutwerte verschlechterten und nicht mehr besser wurden. Im Mai stellte ich mich im Städtischen Klinikum bei Prof. Bentz vor, da er lange Jahre an der Uniklinik Ulm auf dem Gebiet der CLL gearbeitet hatte.

Mein Blut wurde nach Ulm geschickt und genauer überprüft, man konnte anhand der Tumorzellen dort feststellen, dass es sich um eine relativ aggressive Art der CLL handelt. Dies hatte man bei der Beckenstanze nicht festgestellt, da das Knochenmaterial nicht brauchbar gewesen war. Da es mir zum damaligen Zeitpunkt aber noch gut ging, hielt man eine erneute (schmerzhafte) Entnahme nicht für nötig.

Der zweite Schock war die Feststellung, dass diese aggressive Art von CLL und meine inzwischen deutlich spürbar vergrößerten Lymphknoten eine baldige Behandlung erforderten.

Grundsätzlich standen drei Möglichkeiten „zur Wahl“.
Entweder erstmal „nur“ Chemotherapie, autologe Stammzellentransplantation (SZT) oder allogene STZ.

Bei einer autologen SZT werden eigene Stammzellen entnommen, gereinigt, dann wird das verbleibende Blut mittels Chemotherapie und Bestrahlung gereinigt und zum Schluß bekommt man die eigenen, entnommen Stammzellen wieder zugeführt. Somit ist die Krankheit bis auf ein Minimum zurückgedrängt. Bei fremden Stammzellen werden die Stammzellen von einem Fremd-Spender entnommen. (Siehe weiter unten im Text)

Eine Chemotherapie alleine hätte laut Arzt nur kurzfristige Wirkung. Das kam also nicht in Frage.
Bei der Entscheidung zwischen autolog und allogen, war es erschreckend für mich, dass bei einer autologen SZT 1% der Patienten das Verfahren nicht überleben, bei der allogenen SZT 10 – 15%. Das war schon ein Wort. Auch wenn es jetzt auf dem Papier gar nicht mehr gefährlich ausschaut.

Erste Behandlung
Im Juli waren meine Lymphknoten so weit angeschwollen, dass man sie deutlich sehen und spüren konnte. Ich habe gar nicht gewusst, wo man überall Lymphknoten hat. Jetzt musste was passieren. Die Leukozytenzahl war so hoch, dass man sowieso zuerst mit einer Chemotherapie beginnen musste um eine gute Ausgangslage zu erhalten. Wichtig für beide Arten von Transplantation war ein Blutwert möglichst ohne feststellbare Tumorzellen. Eine Entscheidung zwischen den beiden Arten von SZT war daher noch nicht nötig.

Da mich der dicke Hals ziemlich störte, war ich fast froh, als ich ins Krankenhaus kam, auch wenn ich gehörigen Respekt vor der Chemotherapie hatte. Richtig Angst hatte ich keine, ich war eher gespannt, wie ich das ganze vertragen würde. Ich war darüber informiert, dass Chemo nicht gleich Chemo ist und dass es einem nicht grundsätzlich und permanent schlecht sein muss. Ich bin davon ausgegangen, dass es mir nicht schlecht wird, mit Müdigkeit hab ich gerechnet.

Der erste Zyklus dauerte 8 Tage, zuerst erhielt ich hoch dosiertes Cortison, was zu einer kurzfristigen Wasseransammlung von fast 4kg führte. Das ging über Nacht und der Blick in den Spiegel am nächsten Morgen war schon seltsam. Eigentlich hätte ich ein Foto machen sollen…Mit dem richtigen Medikament war das Problem aber schnell gelöst. Die Chemo selbst (3 Tage) machte mir nicht soviel aus. Es ist schwer zu beschreiben, im Nachhinein könnte ich es als leichte Trance beschreiben, aber ich weiß, dass es eigentlich nicht der richtige Ausdruck ist. Ich war eher vom „langen“ Krankenhausaufenthalt durch den Wind. Meist habe ich erst hinterher gemerkt, dass was nicht gestimmt oder sich anders angefühlt hat als sonst.

Danach erhielt ich im Abstand von 4 Wochen noch zwei weitere Zyklen Chemo je 3 Tage, die ich auch gut vertragen habe. Lediglich einen Tag verspürte ich Übelkeit, aber das war echt noch erträglich.



Entscheidung
In dieser Zeit habe ich mich intensiv mit der Entscheidung beschäftigt, welche Art der Transplantation bzw. welches Risiko ich eingehen will. Dazu war ich zu einem Informationsgespräch in Ulm bei Prof. Bunjes, der die SZT dann vornehmen würde. Inzwischen hatte man festgestellt, dass mein Bruder ein zu 100 % passender Spender war.
Ein Riesenglück!
Vom Professor erhielt ich die Information, dass alle vergleichbaren Patienten, die er bisher behandelt hatte innerhalb von 5 – 8 Jahren einen Rückfall hatten, die „nur“ autolog transplantiert wurden. Er würde in meinem Fall auch zu einer „Mini-Transplantation“ raten, da ich noch jung sei und vielleicht gerne noch Kinder hätte. Bei dieser „Mini-Transplantation“ verzichtet man auf die Ganzkörperbestrahlung und die Chemotherapie ist Dosis reduziert. Man habe festgestellt, dass die fremden Stammzellen, wenn sie einmal arbeiten würden, die Zerstörung der letzten, verbliebenen Tumorzellen übernehmen würden, so dass die Chemotherapie nicht mehr ganz so hoch dosiert sein muss. Die Sterblichkeitsrate sei dadurch aber unverändert.

Der Rat der Ärzte war relativ deutlich. Ich gehe auch davon aus, dass ich so in die Entscheidung mit einbezogen wurde, damit ich hinter dem stehe, was passieren würde.
Prof. Bunjes und auch Prof. Bentz waren der Meinung, dass die allogene SZT der Beste Weg sei um einen langfristigen Erfolg an zu streben, evt. sogar eine Heilung.

So lautete dann auch meine Entscheidung, dazu beigetragen haben Gottvertrauen und die erkennbar gute Situation zu diesem Zeitpunkt (unterstützender Partner, gesunde Familie ohne weitere Probleme, gesunder und sehr sportlicher Bruder als Spender).

Nach drei Chemozyklen enthielt das Blut laut Untersuchung keine nennenswerte Anzahl an Tumorzellen, daher konnte die Transplantation zum 28. November 2005 geplant werden. Das war der große Tag 0

Ulm
Jetzt wurde es so richtig spannend. Die Woche vor dem Tag 0 erhielt ich eine Chemotherapie über 5 Tage mit einer höheren Dosierung als bisher. Das konnte ich deutlich spüren. Am zweiten Tag war mir ziemlich schlecht, durch regelmäßige Medikamentengabe konnte man die Übelkeit eindämmen. Appetit hatte ich aber zu keiner Zeit im Krankenhaus, zum einen esse ich nicht gerne alleine zum anderen war schon der Umstand „Krankenhaus“ ein echter Appetit-Killer, obwohl das Essen für ein Krankenhaus ganz gut war.

Die Tage verbrachte ich im Einzelzimmer mit Hörbuch hören und Häkeln, lesen und fern sehen. Und durch mein Laptop und einen analogen Internet-Anschluss konnte ich sogar Kontakt zur Außenwelt halten. Telefonieren mochte ich in dieser Zeit nicht, per mail konnte ich mich immer dann mitteilen, wenn ich mich fit genug fühlte.
Das Einzelzimmer war zum Schutz vor Infektionen, das Zimmer verlassen durfte ich nur mit einer 3-Wege-Filter-Maske, Besucher mussten einen normalen Papiermundschutz tragen und sich beim Eintritt in das Krankenzimmer die Hände desinfizieren.

Handtücher (zu klein ) gab es vom Krankenhaus, die täglich gewechselt wurden, ansonsten durfte ich eigene Wäsche benutzen, die musste auch nicht speziell vorher behandelt werden.
Da ich bis zur Transplantation keine schlimmen Infektionen hatte und da ich einen Familienspender hatte (was auch medizinisch gesehen besser verträglich ist als die SZ eines ganz fremden Menschen), war ich auf der „normalen“ Station, deren Sicherheitsvorschriften nicht ganz so streng waren. Die Besucher mussten eben keine Kittel anziehen und Mitgebrachtes musste nicht desinfiziert werden. Pflanzen und Blumen waren auch hier verboten.

Nachdem die Chemotherpie geschafft war, hatte ich einen Tag Pause, an dem mein Bruder schon nach Ulm anreiste. Der Arme muße sich 5 Tage lang zwei Spritzen täglich geben, mit denen die Blutbildung so angeregt wurde, dass vermehrt Stammzellen produziert wurden, die ins Blut ausgeschwemmt und durch eine Blutentnahme herausgefiltert werden konnten.

Eine Entnahme von Knochenmark durch Op wird heutzutage nur noch in seltenen Fällen angewandt.

Am Tag 0 wird der Spender „angestöpselt“, bekommt Blut entnommen, daraus werden die Stammzellen herausgefiltert, dann bekommt er das Blut wieder zugeführt. Das dauert so 4 – 5 Stunden, ist auch abhängig von dem Größenverhältnis Spender – Empfänger. Die Stammzellen ergaben einen Beutel von ca. 200 ml in blutorangener Farbe.

Bevor der Empfänger die Stammzellen dann bekommt, wird die Anzahl der Zellen gezählt (keine Ahnung wie), ob diese auch ausreichend ist. Notwendig sind so 2 – 3 Mio Zellen, mein Bruder hat 6 Mio Zellen produziert, das war echt fleißig.
Wenn es mehr Zellen sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass die Zellen im Empfängerkörper auch schneller beginnen zu arbeiten.
Mein Bruder war froh, dass er so gut „gearbeitet“ hat, zumal er fast schon eine Phobie vor Spritzen hat. Und ich war total dankbar und stolz auf ihn!

Abends um halb sechs kam die Ärztin und hängte den Beutel mit den Stammzellen an. Zu diesem Zeitpunkt bestanden zwei Gefahren. Zum einen die permanente Infektionsgefahr (auf Grund des fehlenden Immunsystems durch die Chemo; was aber gewollt ist um Platz zu schaffen für das neue Immunsystem).
Zum anderen liegt die Gefahr bei der Transplantation selbst, da der Körper wie bei allen Transplantationen das neue Immunsystem abstoßen kann.

Die Abstoßungsreaktionen können akut nach der Transplantation auftreten und wieder verschwinden oder chronisch werden. Manchmal können sie aber auch erst später auftreten. Bis zwei Jahre nach einer SZT ist das Auftreten einer GvHD (Graft-versus-host-Disease) möglich. Abstoßen können alle Organe des Körpers, meistens sind es Darm, Leber und Haut. So fern die Reaktion keine gefährlichen oder beeinträchtigende Ausmaße annimmt, ist sie sogar gewollt, da so festgestellt werden kann, dass die fremden Abwehrzellen richtig arbeiten und hoffentlich auch die noch verbliebenen Tumorzellen eliminieren.

Nachdem ich die Zellen über die Blutbahn erhalten hatte, bekam ich in den folgenden Tagen und Wochen und Monate viele Medikamente, die das Immunsystem erstmal unterdrückten und es dann langsam auf den neuen Körper loslassen.

In den Tagen nach der Transplantation wurde darauf gewartet, dass die neuen Zellen den Weg ins Knochenmark finden, sich dort ansammeln und vermehren. Das funktionierte so gut, dass ich bereits am 14.12.2005 wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte.
Als einzige Komplikation hatte ich einen Infekt am zentralen Venenkatheder (der war am Hals angebracht worden, da die Chemotherapie zu „giftig“ für die Armvenen ist). Dadurch hatte ich 3 Tage zuerst Schüttelfrost und dann Fieber. Der Katheder wurde entfernt und musste glücklicherweise nicht mal neu gesetzt werden, die meisten Medikamente schon „gelaufen“ waren, so dass der Rest über den Arm ging.

Am 11. Dezember, an meinem 32.Geburtstag, fielen mir dann die Haare doch aus. Vorausschauend hatte ich sie schon früh recht kurz schneiden lassen, damit der Unterschied nicht so groß war. Um ehrlich zu sein fand ich es nicht wirklich schlimm. Das Gute an diesem Tag war, dass mir mitgeteilt wurde, dass ich ein paar Tage später schon wieder nach Hause durfte (auch wenn mich dort aus Angst vor Infektionen noch keiner haben wollte) und die Tatsache, dass mein Freund mir die Haare abrasierte, wie ich es sonst immer mit seinen machte.
Das fertig gestellte Häkelmützchen hat mir aber nicht gefallen. Für die haarlose Zeit habe ich mir mit Schlauch-Schalteilen (Buffs oder Heads) geholfen, die sind schön bunt und geben warm, schließlich war ja Winter.

Eine Perücke hab ich mir zugelegt, wenn ich ehrlich sein soll, hatte ich sie nur einmal richtig auf, bequem ist das nämlich nicht.
Nach gut 2 Monaten wuchsen die Haare wieder dicht und gleichmäßig. Lustigerweise wurden sie dann erstmal lockig, was ich echt nett fand. Beim Friseur war ich im September das erste Mal wieder, da sich die Locken rausgewachsen hatten.

Wieder zu Hause
In der Zeit zu Hause war ich tapfer und fleißig dabei die Tabletten zu nehmen, anfangs waren es 9 verschiedene Medikamente die ich bis zu 3 x täglich nehmen musste. Nach und nach wurden diese reduziert, seit Juni bin ich die Medikamente los.
Und ich habe bis heute keine spürbare Abwehrreaktion feststellen können. Irgendwie hab ich immer darauf gewartet, wenn die Dosis der Immunsupression verringert wurde, das ist schon komisch. Aber im Nachhinein ist es toll zu wissen, dass nichts passiert ist. Spürbare Nebenwirkungen der Tabletten selbst konnte ich auch keine erkennen.

Während dieser Zeit wird regelmäßig untersucht, in wie weit eigene und fremde Stammzellen „hergestellt“ werden. Eine Zeit lang produziert der Körper immer noch „alte“ Stammzellen. Dies soll durch die Transplantation beenden werden, da dabei zu befürchten ist, dass sich auch wieder Tumorzellen bilden.
Von Tag 0 an bis im Mai lag der Spender-Empfänger-Anteil bei 70% zu 30%, das waren relativ viele eigene Stammzellen, die sich auch lange hielten, was laut Ärzten recht ungewöhnlich war.
Bei der Untersuchung am 09.06.06 – mit Beginn der Weltmeisterschaft – bekam ich dann das Ergebnis, dass die Spenderzellen zu 100% vorhanden seien, somit war auch dieser wichtige Schritt geschafft. Fast hätte mich an diesem Punkt der Optimismus verlassen.


Und seit dem geht es mir eigentlich richtig gut. Im Juli und August habe ich mit Wiedereingliederung von 20 bzw. 30 Std. die Woche begonnen zu arbeiten, dann den „Resturlaub“ von 2005 genommen und seit ca. 6 Wochen bin ich wieder „normal“ an meinem Arbeitsplatz in der Brauerstraße.

Sicherlich bin ich ab und an früher müde als zuvor, auch am Wochenende ruhe ich mehr, aber unter Anbetracht der Umstände bin ich richtig fit.


Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir nicht nur mein Optimismus, mein Glaube und meine Familie geholfen haben, diese Zeit so gut zu überstehen, sondern auch die vielen guten Gedanken, Gebete und gedrückte Daumen von sämtlichen Freunden und Kollegen.

Vielen Dank

Tanja Dopf 28.November 2006